erschienen in Die Zeit am 27.8.2015
Im Juli 1863 markierte die Schlacht von Gettysburg in den Vereinigten Staaten von Amerika den Höhepunkt eines blutigen Bruderkrieges, der vordergründig ein Kampf zwischen Idealen, tatsächlich aber ein Konflikt zwischen Wirtschaftssystemen war, zwischen dem industriellen Norden und dem agrarischen Süden. Am 19. November jenes Jahres wurde im Beisein von Präsident Abraham Lincoln auf dem ehemaligen Schlachtfeld ein Soldatenfriedhof eingeweiht. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der nordamerikanische Kontinent an einem Wendepunkt, nicht unähnlich dem, an dem Europa derzeit steht.
Hier und heute allerdings scheiden sich die Geister an Fragen der Solidarität gegenüber dem griechischen Volk und dem Strom der Flüchtlinge. Die nur 272 Wörter umfassende Ansprache des amerikanischen Präsidenten, die unter dem Namen Gettysburg Address in die Annalen der amerikanischen Geschichtsschreibung eingegangen ist, diente trotz ihrer Kürze dem tief gespaltenen Land als Richtschnur auf seinem Weg in eine Zukunft in Einigkeit. Europa vermisst bis heute eine ähnlich sinnstiftende Rede. Warum sollte eine solche nicht in dem Land gehalten werden, von dessen Boden die beiden Weltuntergänge des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Anfang genommen haben? Warum nicht in der Stadt, die schon lange nicht mehr die »Macht in der Mitte«, aber noch immer die Möglichkeit in der Mitte markiert? Warum sollte sie nicht von einem gehalten werden, der nicht Geschichte geschrieben hat, sondern Geschichten schreibt? Und warum sollte sie nicht so lauten?
Vor 64 Jahren gründeten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Gemeinschaft, in
dem Bewusstsein gezeugt, dass die ungerechte Verteilung von Gut und Geld die Wurzel
dessen ist, was Verhängnis und Verderben über die Menschen brachte und bringt. Nun
sehen wir uns einem Strom von Hoffnungslosen gegenüber, die Teil dieser Gemeinschaft
sind und Nachbarn derselben. Daraus entsteht eine Herausforderung, die zur
Bewährungsprobe unserer Gemeinschaft geworden ist, angesichts derer sich wird erweisen
müssen, ob ihre Fundamente stark genug sind, um standzuhalten, dieser Flut, gespeist aus
dem Meer der Tränen der Gedemütigten. Dabei ist es gleichgültig, ob wir heute in Verdun
oder Warschau, in Dünkirchen oder Monte Cassino, in Dresden oder Coventry stehen.
Überall ist der Boden unter unseren Füßen getränkt vom Schweiß und vom Blut unserer
Vorväter, die gekämpft haben und gestorben sind dafür, dass unsere Kindeskinder in
Frieden und Freiheit leben können. Dem Andenken der Ersten und dem Auftrag der Letzten
schulden wir die denkbar größte Anstrengung bei der Bewältigung der Aufgabe, vor der wir
stehen. In nichts Geringerem besteht diese als in dem unbedingten Willen zum Einstehen für die Schwachen und Schutzlosen; in der endgültigen und unwiderruflichen Abkehr von allem,was Menschen entzweit oder trennt; in der umfassenden Erkenntnis, dass keiner auf diesem Kontinent oder sonst wo sein Glück auf dem Unglück eines anderen langfristig zu gründen imstande ist; und dass größere Fähigkeiten einem Menschen nur größere Verantwortung auferlegen. Gelingt uns dies nicht, werden Abertausende vergebens gestorben sein und werden ebenso viele ihnen folgen.