Erschienen in der Wiener Zeitung am 11.5.2014
Vor 90 Jahren wurde der „intellektuelle Allrounder“ Jörg Mauthe geboren. In seinen prophetischen Analysen kommender Katastrophen hielt der Wiener Autor den „Homo Austriacus“ für besonders krisenfest.
Der Journalist, Kunsthistoriker, Politiker und Schriftsteller Jörg Mauthe wurde am 11. Mai 1924 in Wien-Alsergrund geboren und starb, wie er in seinem Wienführer „Der gelernte Wiener“ im Jahr 1961 voraussagte, ebendort. Seine Heimatstadt war ihm zeitlebens eine Gefährtin, sie war seine „Vielgeliebte“. Diese beinah zärtliche Zuneigung teilte Mauthe mit seinem Alter Ego, dem Legationsrat Erster Klasse im Außenministerium Dr. Tuzzi, der in seinem Roman „Die große Hitze“ die Republik rettet. Bei
diesem über weite Strecken herzmanovsky-artigen, bizarren Unterfangen hat der Titelheld reichlich Gelegenheit, sowohl österreichische Tugenden als auch weltbürgerliche Desinvolture zu beweisen.
Diese Attribute würden dem Wiener im Speziellen und dem Österreicher im Allgemeinen laut Mauthes weitsichtigen Prophezeiungen, dargelegt in „Der Weltuntergang zu Wien“, auch bei der Bewältigung von Krisen zustatten kommen. In der Analyse derselben erwies sich Mauthe treffsicherer als mancher Zukunftsforscher und Risk-Manager. Bereits in den späten 1970er Jahren erkannte er die möglichen Auswirkungen dessen, was er damals „globale Interdependenzen“ und wir heute Globalisierung nennen.
Mehrere Alter Egos
Auch die kommende Informationsflut, die es uns so schwierig macht, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, antizipierte der intellektuelle Allrounder zu einer Zeit, als es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis Mobiltelefone und Internet erfunden wurden. In Mauthes Buch „Die Vielgeliebte“ verfasst der „Heilige“, ein weiteres Alter Ego des Verfassers, im Verlaufe eines sieben Tage dauernden „großen Festes“ ein Manifest bestehend aus zwölf „Bemerkungen zum Weltuntergang“.
In der „Bemerkung Nr. 3“ nimmt Mauthe den Verlust der Staatsmacht (an multinationale Industrie- und Medienkonzerne, wie wir heute wissen) vorweg: „Da die Regierungen sich zunehmend auf nichts anderes berufen können oder wollen, als auf sich selbst (…), sehen sie sich gezwungen, Entscheidungen auszuweichen…“ In weiterer Folge mutmaßt er, dass jene Interdependenzen (wie nicht regulierbare globale Finanzströme), die zur Entstehung der Krise geführt haben, dieselbe noch verschärfen, wenn ihnen seitens der Regierungen nur unzureichend entgegengewirkt wird. „Bemerkung Nr. 7: (…) Da sie (die Regierungen) jedoch nur punktuelle Korrekturen vornehmen können, verwirren sie die Interdependenzen noch mehr: wodurch sich die ohnehin schon chiliastisch verstörte öffentliche Moral weiter verschlechtert …“
Schließlich wird neuerlich der Ruf nach einem starken Mann (oder im Falle Frankreichs womöglich nach einer starken Frau, etwa Marine Le Pen) laut werden. „Bemerkung Nr. 9: (…) Selbstverständlich wird im Verlaufe dieser Entwicklungen die Forderung nach regulierenden Autoritäten immer lauter (…)“. Daher „bilden sich“ entsprechend „Bemerkung Nr. 12 (…) autoritäre Substrukturen. Es werden seltsame Allianzen eingegangen, die versuchen, Teile der Autorität zu bewahren oder an sich zu reißen.“
Eine mögliche Antwort auf die genannten Bedrohungen formulierte Mauthe in dem aus dem Jahr 1981 stammenden Aufsatz „Die Politik des Überlebens“. Dort schrieb er: „Die Politik wie der Politiker müssen wieder – koste es sie, was es wolle – ihre Unersetzbarkeit beweisen.“ Dass es dabei nicht ausreichen wird, von Spindoktoren vorformulierte Stehsätze und Allgemeinplätze wiederzukäuen, lag für den von der ÖVP unter Erhard Busek ins Wiener Rathaus geholten Mauthe auf der Hand. „. . . ich meine, dass allmählich jene Politiker an Glaubwürdigkeit verlieren, die auf jede Frage eine vorgestanzte Antwort parat haben.“
Gleichzeitig erkannte er die Bedeutung einer soliden Adminis- tration, wie seine augenzwinkernde Hommage an dieselbe in seinem Hauptwerk „Die große Hitze“ zeigt. Bürokratie der Bürokratie willen oder auch Verwaltung ohne politische Zielvorgaben sind aber zum Scheitern verurteilt; die Gesellschaft sehnt sich nach einer Vater- oder Führerfigur, sei es Kaiser oder Kanzler (in der „großen Hitze“ symbolisiert sowohl durch den Doppeladler als auch den „großen Zampano“).
Ähnliche Überlegungen stellt auch der niederländische Autor Harry Mulisch in dem Roman „Die Entdeckung des Himmels“ an. Sein Protagonist Onno Quist, selbst Politiker, schreibt in einem Brief an seinen Vater: „Wo die Fürstenhäuser verschwanden, sorgte das Beamtentum für Kontinuität, seit Babylon und dem alten Ägypten ist es immer so gewesen, Beamte sind ewig, sie überleben ihre Pharaonen, Könige, Präsidenten, aber ohne Führer geht es nicht; Beamte ohne Führer sind Kleider ohne Kaiser. Daran könnte ein geeintes Europa durchaus scheitern . . .“
„Die Vielgeliebte“
Die vor wenigen Wochen publizierten Warnungen des „World Economic Forum“, wonach die erheblichen Einkommensunterschiede in den westlichen Indus-trieländern ein enormes Risiko für kaum mehr kontrollierbare Unruhen bergen, können als amtliche Bestätigung von Mauthes Thesen gesehen werden, wonach „die nächste Katastrophe (…) als wirtschaftliche Katastrophe beginnen (wird).“
Die Handlung des Romans „Die Vielgeliebte“ beginnt mit der Beisetzung derselben auf einem nicht näher bezeichneten Friedhof Wiens und kehrt immer wieder dorthin zurück. Während die Trauergäste auf den Pfarrer und die Pompfüneberer warten, die durch die in der Stadt herrschenden Unruhen aufgehalten worden sind, hört man gelegentlich „Schüsse, die nun wieder, lauter als vorhin, vom Donauufer heraufgellen.“
Tröstlicherweise besitzt Mau-the zufolge der Homo Austriacus jene Eigenschaften, die ihn dazu prädestinieren, selbst die schlimmsten Krisen zu bewältigen. „Der nächste Weltuntergang wird (…) die Konsequenz des Zusammenpralls eines chiliastischen Irrationalismus mit einer überperfektionierten Technologie sein. Das ist so bizarr, dass es der Österreicher naiv nachvollziehen kann“, schreibt Mauthe mit einem gewissen Optimismus. Als Bewohner einer mitteleuropäischen Knautschzone hat man hierzulande Routine mit existenziellen Bedrohungen. Man dissimuliert sie erfolgreich mittels Schlendrian und Schlamperei. „Diese Einstellung und diese Routine haben den Wiener zum geborenen und gelernten Überleber gemacht (…) Zu bedenken, was er noch alles überleben können wird, erfüllt mit Hoffnung.“
Die Bedeutung einer „großen Koalition“ würdigte Mauthe unter anderem mit der Feststellung, dass sie „jede Partei in die nicht unangenehme Lage versetzte, gleichzeitig sowohl Regierungs- als auch Oppositionspartei zu spielen. Ein Zustand, der theoretisch völlig unmöglich war, in der Praxis aber jahrzehntelang funktionierte.“ Naturgemäß galt das nur solange, bis drei oder mehr Parteien im Nationalrat saßen und die ehedem „großen“ Parteien keine ausreichenden Mehrheiten an Moral und Mandaten erzielen konnten.
Auch für diesen erst Jahre nach seinem Tod eintretenden Fall hatte der aus einem politisch liberalen, konfessionell protestantischen Elternhaus stammende Mauthe ein Konzept. Er erkannte die Bedeutung einer damals in Österreich fehlenden liberalen Partei: „. . .ohne Liberale geht es nicht. Zwischen den Sesseln sitzend ist er es, der zwischen Links und Rechts, zwischen Oben und Unten, zwischen Hinten und Vorn die Kommunikation herstellt (…) Der Liberale glaubt an Toleranz, Güte und die Möglichkeit einer Solidarisierung mit dem Menschlichen schlechthin.“
Galizische Einsprengsel
Aber Mauthe wäre nicht Mauthe gewesen, hätte er politisch nicht über Wiens und Österreichs Grenzen hinausgedacht. Auch die Vorstellung von einem Österreich, das ideell größer sein könnte (und sollte), als es seinen Staatsgrenzen entspricht, wurzelte in seiner Genetik, die väterlicherseits starke galizische Einsprengsel aufweist. Es nimmt daher nicht wunder, dass Mauthe in einer seiner Gemeinderatsreden nicht nur etliche Beispiele des noch immer bestehenden Einflusses Österreichs auf – ideell und kulturell – benachbarte Regionen Norditaliens, Bosniens, Südpolens und der Ukraine hinwies, sondern auch politische Bemühungen um diese Gegenden forderte, die er – da sie von Wien ausgehen sollten – als „aktive Stadtaußenpolitik“ bezeichnete. Die Aktivitäten der von Erhard Busek präsidierten „Gesellschaft für den Donauraum“ und die vom Außenminister und vom Bundeskanzler angesichts der Krimkrise an die ukrainische Regierung gerichtete Ermunterung zur Neutralitätserklärung nach dem Vorbild Österreichs können als Früchte dieser Überlegungen zur „Verösterreicherung“ gesehen werden.
Weniger bekannt als Mauthes schriftstellerische und realpolitische Aktivitäten sind bedauerlicherweise seine gesellschaftspolitischen Anregungen. Umweltschutz war dem passionierten Gärtner vermutlich auch aus ästhetischen Überlegungen heraus ein Anliegen, und zwar lange bevor die Grünen gegründet wurden. Im Jahr 1970 setzte er als Programmplaner des ORF einen Themenschwerpunkt „Umwelt und Umweltschutz“.
Als Au-Schwarzstorch
Da diese uns heute selbstverständlichen und allgegenwärtigen Begriffe zu diesem Zeitpunkt noch nicht „erfunden“ waren, lautete der damalige Titel in nachgerade prophetisch anmutender Dramatik „Überleben“. Bei der anlässlich der Besetzung der Stopfenreuther Au im PEN-Club abgehaltenen Pressekonferenz erschien Mauthe neben dem als Auhirsch verkleideten Günther Nenning als Schwarzstorch kostümiert, um die über ideologische Gräben reichende Bedeutung des Themas zu unterstreichen.
„Guerilla Gardening“, also das (unerlaubte) Bepflanzen von öffentlichen Flächen, stammt laut „Wikipedia“ aus den USA und Deutschland. Es scheint in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass Jörg Mauthe bereits 1974 die Wiener dazu aufrief, hässliche Gemeindebauten und trostlose Feuermauern mit Veitschi zuwachsen zu lassen, und damit beachtlichen Erfolg hatte, bis die Stadt Wien ein entsprechendes Verbot erließ.
Als humanistisch gebildeter und aufgeklärt denkender Politiker war Jörg Mauthe in diesem „phantastischen Land Österreich“ einer der letzten seiner Art. Man würde sich wünschen, dass mehr politische Menschen den Ratschlag der Journalistin Ruth Pauli befolgten, sich in kritischen Situationen zu fragen: „What would Mauthe do?“, und solcherart die „Verösterreicherung“ voranzutreiben.