Archiv der Kategorie: Essays

Rede zur Verleihung des „Literatur!Preis Klosterneuburg“, gehalten am 4. Dezember 2018

Über die Bedeutung von Literatur

Oft hört man Klagen, wonach Jugendliche heute weniger lesen und schreiben würden als früher: Das ist falsch! Heutige Jugendliche lesen und schreiben sogar mehr, als das meine Generation in diesem Alter getan hat. Allerdings hat sich auch das Lese- und Schreibverhalten geändert. Wenn es stimmt, was die Forschung behauptet, lest ihr eher kursorisch und schreibt eher kurze Botschaften. Und natürlich spielt sich das alles kaum noch analog ab.
Trotzdem oder gerade deshalb möchte ich heute die Frage stellen, ob Literatur in Zeiten von Twitter und Instagram noch Bedeutung hat? Und wenn ja, welche das sein könnte?
Als Autor kann ich diese Fragen nur persönlich beantworten. Und versuchen, aus den persönlichen Antworten allgemein gültige abzuleiten. Pars pro toto sozusagen.
Zu diesem Zweck habe ich euch heute drei Zitate und zwei Bücher mitgebracht.
Hier das erste Zitat. Es stammt von Umberto Eco, einem italienischen Schriftsteller, und unterstreicht die Bedeutung des Lesens:
Die Aufgabe eines Romans ist, auf unterhaltsame Weise zu belehren, und was er lehrt, ist die Tücken der Welt zu erkennen.

Das erste Buch, das ich mitgebracht habe, ist ein solcher Roman. Er stammt von dem französischen Autor Albert Camus und trägt den Titel Die Pest. Seine Bekanntschaft verdanke ich meinem Deutsch- und Französischlehrer Mag. Kruzik, der bis vor einigen Jahren hier am Gymnasium unterrichtet hat.
Geschildert wird in diesem Roman eine Pestepidemie, die eine nordafrikanische Hafenstadt gleichsam in einen Belagerungszustand versetzt. Der wichtigste Protagonist ist ein Arzt namens Doktor Rieux, der durch das Schließen der Stadttore von seiner Frau getrennt wird und sich trotzdem entschließt, den Kampf gegen die Seuche aufzunehmen. Dabei steht die Pest bei Camus als Sinnbild für das Böse an sich, das seiner Meinung nach nie ganz ausgerottet werden kann. Trotzdem ist es unabdingbar – so die Botschaft des Autors -, sich dagegen zu wehren. Die wichtigsten Sätze in diesem wichtigen Buch stehen auf der letzten Seite und sind mein zweites Zitat:

Und doch wusste er [Dr. Rieux], dass dies nicht die Chronik des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, was man hatte vollbringen müssen und was ohne Zweifel noch alle jene Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens und seine unermüdliche Waffe ankämpfen, die Heimsuchungen nicht anerkennen wollen, keine Heiligen sein können und sich dennoch bemühen, Ärzte zu sein.

Nachdem ich diese Sätze gelesen hatte, stand für mich fest, dass ich Arzt werden will!

Ihr seht also, was das Lesen bewirken kann.
Daher mein Appell an euch. Lest, lest, lest!
Lest, wenn ihr etwas über die Welt erfahren wollt!

Mein drittes Zitat dient der Überleitung zur Bedeutung des Schreibens und stammt wieder von Umberto Eco (und Viktor Frankl würde ihm wohl recht geben):
Um zu überleben, muss man Geschichten erzählen.
Das klingt natürlich ein wenig pathetisch, illustriert aber anschaulich, wie wichtig das Schreiben für den Autor sein kann.
Am Anfang meines Schreibens stand ein starkes Gefühl. Und zwar ein Gefühl des Aufbegehrens. Ich wollte Fehlentwicklungen, die ich in der Medizin kommen sah, nicht länger widerspruchslos hinnehmen. Ich verfasste also einen langen Leserbrief und war sehr erstaunt, als er auf Seite drei der Salzburger Nachrichten ungekürzt abgedruckt wurde. Für die NÖN schrieb ich dann ein Jahr lang eine Kolumne. Es folgten Gastkommentare und schließlich Essays zu gesundheits- und gesellschaftspolitischen Fragen. Nach der Veröffentlichung einer Essaysammlung und eines Sachbuchs begann ich vor drei Jahren die Arbeit an meinem ersten Roman. Er trägt den Titel Paurs Traum und ist das zweite Buch, das ich euch mitgebracht habe.

Erlaubt mir an dieser Stelle einen kurzen Einschub, der allen von euch, die heute keinen Preis erhalten werden, als Trost und als Aufmunterung dienen soll: Dieser Roman verdankt seine Entstehung meiner erfolglosen Teilnahme an einem Literaturwettbewerb! Nach dem Motto: jetzt erst recht!

Es geht darin um die historisch belegte aberwitzige Lebensgeschichte eines Außenseiters, der bereits einige Jahre vor der Veröffentlichung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 die Idee hatte, im tiefsten Niederösterreich eine multikulturelle Stadt zu gründen, in der gelebte Integration, freie Religionsausübung und bedingungsloses Grundeinkommen umgesetzt werden sollten.

Während der Arbeit an dem Buch wurde mir klar, dass für mich weniger sein Inhalt bedeutsam war als vielmehr das, was mich das Schreiben gelehrt hat: Geduld, Demut und Kritikfähigkeit. Und dass man, wenn man etwas Großes schaffen will, drei Dinge braucht: einen guten Plan, Durchhaltevermögen und Sinn für Proportionen. Und natürlich ein wenig Glück. Für das man aber erstens etwas tun und zweitens bereit sein muss.

Ihr seht also, was das Schreiben bewirken kann.
Daher mein Appell an euch! Schreibt, schreibt, schreibt!
Nutzt dieses Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung – auch um es zu schützen!
Schreibt Tagebücher, Leserbriefe oder Blogs, schreibt Gedichte, Kommentare und Essays, schreibt Kolumnen, Glossen und Feuilletons, schreibt Pamphlete, Kurzgeschichten, Grafic novels, schreibt Romane und Erzählungen.
Schreibt, schreibt, schreibt!
Schreibt, wenn ihr etwas über euch selbst erfahren wollt!

Doderer-Hausbesorgerin: Das „liebe Poldilein“ oder kurz die „Kress“

erschienen im Standard -Album am 18.12.2016

https://derstandard.at/2000049418179/Doderer-Hausbesorgerin-Das-liebe-Poldilein-oder-kurz-die-Kress

 


Am 23. Dezember 1966 starb Heimito von Doderer im Wiener Rudolfinerhaus an den Komplikationen einer Darmoperation. Erinnerungen an seine Hausbesorgerin zum 50. Todestag des österreichischen Schriftstellers

Dass Leopoldine Engelbrecher nach dem Requiem in der Karmeliterkirche am 2. Jänner 1967 am offenen Grab Doderers auf dem Grinzinger Friedhof gestanden ist, kann vermutet werden. Sicher ist, dass Frau Kresswaritzky, wie die langjährige Hausbesorgerin und spätere Haushälterin des Autors der Dämonen mit ihrem Mädchennamen geheißen hatte, für das Leben des Schriftstellers große Bedeutung hatte.

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Meine A1: Betrachtungen über die Westautobahn

erschienen im Standard am 2.7.2016

https://derstandard.at/2000040203991/Meine-A1-Betrachtungen-ueber-die-Westautobahn


Vielfältig wie meine Befindlichkeiten auf den Reisen über die Westautobahn waren die Autos, mit denen ich sie zunächst passiv und später aktiv befahren habe. Betrachtungen zu Beginn der Reisezeit

Zu Ferienbeginn war ich wieder einmal auf der Westautobahn unterwegs und passierte dabei meine persönliche A1-Referenzstelle, an der ich seit langem meine aktuelle Befindlichkeit und meine allgemeinen Lebensumstände messe. Dabei handelt es sich um eine in meiner Kindheit angenommene Angewohnheit: In bestimmten Momenten halte ich meinen Lebensfilm an, registriere die äußeren Umstände und nehme sie zum Referenzpunkt, um mittels einer Art internen Zeitraffers Veränderungen in meinem Leben besser sichtbar zu machen. Die 292 Kilometer lange Westautobahn im Allgemeinen und ihr etwa 45 Kilometer langes Teilstück zwischen Schörfling und Thalgau im Speziellen waren schon in meiner frühen Kindheit von großer persönlicher Bedeutung. Und das nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie: So erinnere ich mich an ein Buch in der Bibliothek meiner Eltern mit dem Titel Die Autobahn Wien-Salzburg, in dem mich ein Farbfoto von friedlich neben der Autobahn bei Mondsee weidenden Kühen fasziniert hat.

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Ordnung in und nach dem Leben

erschienen im Standard am 31.10.2015

http://derstandard.at/2000024805219/Ordnung-in-und-nach-dem-Leben


Über Friedhöfe, Grabsteine und Inschriften: Was uns die Titel der Toten lehren können

Friedhofsgärtner ist auch ein schöner Beruf. Wenig Stress und viel frische Luft. Das erhöht die Lebenserwartung.“ Mit diesen Worten spornte unser Vater seine Söhne bei mäßigen Schulnoten zu besseren Leistungen an. Ob das Bestehen der Matura auf diese Motivation zurückzuführen ist, muss dahingestellt bleiben. Ebenso wie die Frage, ob dieser Satz bei mir das Vergnügen an Friedhofsspaziergängen begründet hat. Fest steht, dass die ehedem vergoldeten Inschriften auf verwitterten Grabsteinen schon früh mein Interesse weckten. Und zwar umso mehr, je umfangreicher sie das Leben der Verstorbenen dokumentierten. Besonders die Berufsbezeichnungen und Amtstitel der Toten drängten zunehmend in den Fokus meiner Aufmerksamkeit.

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Die Wien-Rede

erschienen in Die Zeit am 27.8.2015

Im Juli 1863 markierte die Schlacht von Gettysburg in den Vereinigten Staaten von Amerika den Höhepunkt eines blutigen Bruderkrieges, der vordergründig ein Kampf zwischen Idealen, tatsächlich aber ein Konflikt zwischen Wirtschaftssystemen war, zwischen dem industriellen Norden und dem agrarischen Süden. Am 19. November jenes Jahres wurde im Beisein von Präsident Abraham Lincoln auf dem ehemaligen Schlachtfeld ein Soldatenfriedhof eingeweiht. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der nordamerikanische Kontinent an einem Wendepunkt, nicht unähnlich dem, an dem Europa derzeit steht. Weiterlesen

Routine in Weltuntergängen

Erschienen in der Wiener Zeitung am 11.5.2014

https://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/autoren/628679_Routine-in-Weltuntergaengen.html


Vor 90 Jahren wurde der „intellektuelle Allrounder“ Jörg Mauthe geboren. In seinen prophetischen Analysen kommender Katastrophen hielt der Wiener Autor den „Homo Austriacus“ für besonders krisenfest.

Der Journalist, Kunsthistoriker, Politiker und Schriftsteller Jörg Mauthe wurde am 11. Mai 1924 in Wien-Alsergrund geboren und starb, wie er in seinem Wienführer „Der gelernte Wiener“ im Jahr 1961 voraussagte, ebendort. Seine Heimatstadt war ihm zeitlebens eine Gefährtin, sie war seine „Vielgeliebte“. Diese beinah zärtliche Zuneigung teilte Mauthe mit seinem Alter Ego, dem Legationsrat Erster Klasse im Außenministerium Dr. Tuzzi, der in seinem Roman „Die große Hitze“ die Republik rettet. Bei
diesem über weite Strecken herzmanovsky-artigen, bizarren Unterfangen hat der Titelheld reichlich Gelegenheit, sowohl österreichische Tugenden als auch weltbürgerliche Desinvolture zu beweisen.

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Neoliberale Eisberge

Erschienen in der Wiener Zeitung am 14.4.2012

https://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wz_reflexionen/vermessungen/450358_Neoliberale-Eisberge.html

 


In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 versank das Prachtschiff „Titanic“ im arktischen Meer. Heute kann dieser spektakuläre Unfall als lehrreiche Metapher für die aktuelle Finanzkrise dienen.

Obwohl Gerüchte, wonach Kapitän Edward John Smith oder die White Star Line auf der Jungfernfahrt das blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung gewinnen wollten, widerlegt wurden, gilt als sicher, dass Joseph Bruce Ismay, Geschäftsführer der White Star Line und Passagier an Bord der „Titanic“, „seinen“ Kapitän dazu gedrängt hatte, die Geschwindigkeit des Schiffes trotz der eingehenden Eiswarnungen nicht zu drosseln und den Kurs beizubehalten. Er wollte einen Tag früher als geplant in New York ankommen. Weiterlesen