Der Traum
25. Juli 1751
Die Sonne steht im Zenit. Aber das ahnt man heute mehr, als man es sieht. Nach den Regenfällen des gestrigen Tages quillt seit dem Morgen aus den Wiesen und Wäldern dichter Dunst. Das gesamte Becken scheint zu dampfen, der Himmel ist milchig, das Licht diffus. Der Duft von feuchtem Heu, fetter Erde und frisch gesägten Brettern liegt über der Ebene. Es herrscht Ruhe ringsumher. Kein Vogelgezwitscher, kein Pferdegewieher; kein Sensensirren, kein Hammerschlag, kein Sägensingen; keine Stimmen. Totenstill liegt der Bauplatz zu Füßen des hölzernen Gerüsts, auf dem Leopold steht, um den Fortschritt der Arbeiten zu prüfen. Jeden Tag erklimmt er zur Mittagsstunde den Turm. Da und dort glimmt die Glut einer Esse, der Rauch steigt in der stehenden Luft fadenförmig auf. Die Zimmerer und Maurer, die Zeichner und Vermesser, die Pflasterer und Schmiede kennen die Gewohnheit des Bauherrn und wagen nicht, sie zu stören. Ermattet durch die Anstrengung der morgendlichen Arbeit und durch die Schwüle der mittäglichen Hitze ruhen die Lehrlinge, Gesellen und Meister unter ihresgleichen. Sie wissen, dass sie ausgewählt wurden, weil sie die Ersten ihrer Zunft, die Spitzen ihrer Gilde sind. Denn es erfordert die Besten, um das Werk zu verwirklichen, das dieser Bauherr ersonnen hat.
Leopolds Blick schweift zuerst nach Nordosten: Schnurgerade verläuft die Achse der Straße, die zum Tor des Nordwindes führen soll, drei Meilen in Richtung Horn und weiter bis Retz und Znaim. Hier kommen die Arbeiten gut voran. Auch das Gelände in den jeweils anschließenden Sektoren ist in einem Maß planiert worden, das darauf hoffen lässt, dass der Untergrund für die Fundamente der Straßen und Plätze, der Kirchen und Häuser vor dem Herbst ausreichend befestigt werden kann. Die Straße nach Altenburg ist im Augenblick noch eher eine Ahnung. Der in diesem Bereich tätige Bautrupp ist in den vergangenen Wochen langsamer vorangekommen als jener im nördlichen Abschnitt. Allerdings muss man in Betracht ziehen, dass das Gelände hier ungleich schwieriger ist. Um das Bett für die südöstliche Hauptstraße und die Gebäude der angrenzenden Viertel bauen zu können, müssen noch einige Hügel abgetragen und wohl ebenso viele Senken aufgeschüttet werden. Vielleicht wird es erforderlich sein, im Süden mehr Taglöhner für das Fällen der Bäume und das Kupieren der Kuppen einzustellen, überlegt der junge Mann, der sich nun weit über die Brüstung der obersten Plattform hinauslehnt. Das diesige Zwielicht schmerzt in den Augen, er muss ein paar Mal blinzeln und mit dem Handrücken über die Lider fahren, um besser sehen zu können. Am größten ist der Baufortschritt entlang der Ost-West-Achse. Sie ist fast vollständig gepflastert, die Quellen und Bäche in ihrem Verlauf sind gefasst, die Brunnen gemauert und die Abwasserkanäle gezogen. Leopold blickt auf den Plan, wendet sich nach links und schaut nach Osten.
Dort, wo das Tor der Aufgehenden Sonne die Verbindung der Stadt nach Eggenburg markieren soll, hat man bereits begonnen, die Stämme für das Gerüst der Bogenkonstruktion abzuladen. Entsprechend der alten Tradition der Baumeister hat Leopold angeordnet, den Grundstein zu seiner Stadt im Nordosten zu legen, und zwar an der Stelle, wo die Sonne am Morgen des 15. November, dem Tag des Heiligen Leopold, über den herbstlichen Horizont steigt. Demnächst wird dort die Porta Orientalis, das prächtigste der Stadttore, in die Höhe wachsen.
Leopold sieht sich durch die breiten, sternförmig aufeinander zulaufenden Straßen gehen, an deren Kreuzungspunkt er den Aussichtsturm errichten hat lassen, von dem aus er jetzt den Fortgang der Bauarbeiten prüft. Hier wird das Zentrum seiner Stadt entstehen, ein Ort der Zusammenkunft, des Handels mit exquisiten Spezereien aus aller Herren Länder ebenso wie mit erlesenen Gedanken aus allen Denkschulen der Welt. Raum soll es hier geben und Licht, denn große Ideen können nur gedeihen, wenn sie Platz haben, um sich zu entfalten. Leopold weiß, dass solide Kenntnisse des Lateinischen, der Arithmetik und der Philosophie die Grundlage allen neuen Denkens sind. Aber er ahnt auch, dass neue Entdeckungen und Erfindungen nur dann möglich sind, wenn man die Enge des Klassenzimmers hinter sich lässt. Oft genug haben ihn Pater Kajetans engstirnige Ermahnungen zu mehr Fleiß beim Repetieren der lateinischen Konjugationen aus seinen Träumen gerissen, in denen er über das sonnendurchflutete Forum Romanum schlenderte oder im Tempel der Athene sein Opfer darbringen wollte. Immer wieder war er in der Geometriestunde des Pater Anselm von seinen derben Mitschülern mit Knüffen in die nach Hirseeintopf und Bohnensuppe stinkende Wirklichkeit des Klassenzimmers zurückgeholt worden, wenn er etwa im Begriff war, ein Dreieck gemäß dem Satz von Thales zu konstruieren oder ein Parallelogramm zu spiegeln. Und häufig war die kurze Stunde der nachmittäglichen Freizeit vorbei, die er mit dem Zier- und Küchengärtner des Stiftes zwischen dessen Blumen und Kräutern zu verbringen liebte, bevor er auf alle seine Fragen eine Antwort erhalten hatte. Ein solides Rüstzeug braucht man, das ist wahr, aber gleichbedeutend sind Raum und Zeit für Müßiggang und Hirngespinste. Ja, Müßiggang soll in seiner Stadt nicht als Laster gelten, Träumer sollen gleiches Ansehen genießen wie Handwerker und Doktoren. Und nicht nur aus Wien oder Prag sollen die Gelehrten in seine Stadt kommen, sondern auch aus Paris und Bagdad, Tripolis und Jerusalem, ja selbst aus Sansibar und Shanghai sollen die größten Denker und Mathematiker, Doktoren der Medizin und Arzneikunde, Juristen und Theologen sich hier versammeln. Zum Wohl der Menschen seiner Stadt und des ganzen Erdkreises will er hier jene Männer um sich scharen, die in der Lage sein werden, den Hunger und die Pest, die Armut und den Aussatz, die Dummheit und die Krätze zu besiegen. Um dieses Ziel zu verwirklichen sollen Tempel und Kirchen, Bibliotheken und Schulen errichtet werden. Die Häuser sollen viele Fenster aufweisen, ihre Grundrisse und Fassaden will er entsprechend den Vorbildern aus Athen und Rom gestalten lassen, ohne unnützen Zierrat, ganz dem Ziel der Formung und Festigung des Charakters ihrer Bewohner unterworfen.
Während Leopold in die Weite der unter ihm liegenden Ebene starrt, meint er, in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt bereits das Gewirr der Stimmen ihrer aus allen Teilen der Welt stammenden Einwohner zu hören. Ein fröhliches Wirrwarr verschiedenster Zungen, bestehend aus kurzen, harten Lauten ebenso wie aus weichen, vokalreichen, dabei harmonisch und melodisch wie das treffliche Zusammenklingen von Mandolinen und Posaunen, Dudelsäcken und Harfen. Ähnlich dem vielstimmigen Gesang der Vögel des Waldes bei Sonnenaufgang. Doch der Spiritus Rector dieser Stadt ahnt, dass es zum Gelingen seines Vorhabens einer ordnenden Hand bedürfen wird. Einer Hand, die die Noten für das Spiel des aus verschiedenartigen Individuen zusammengesetzten Orchesters aufschreiben wird müssen. Seine Stadt wird eine eigene Verfassung benötigen. Einer der Grundsätze dieser zukünftigen Konstitution wird jedenfalls darin bestehen müssen, keinem ihrer Bürger mehr Rechte einzuräumen als einem anderen. Und größere Fähigkeiten sollen den Einwohnern nur größere Pflichten auferlegen.
Um den Fortbestand und das Gedeihen dieser idealen Siedlung über die Jahrhunderte zu sichern, wird es darüber hinaus eine den Unwägbarkeiten der Zeiten trotzende finanzielle Einnahmequelle brauchen. Zölle und Mauten werden dafür aber nicht infrage kommen. Seine Stadt soll nach allen Richtungen der Windrose hin offen sein. Auch will Leopold die Bewohner nicht durch hohe Abgaben und Steuern daran hindern, ihren Neigungen nachzugehen, mögen sie auch binnen kurzer und mittlerer Fristen wenig oder gar nichts einbringen. Die Bürger der Stadt werden demnach über etwas Einzigartiges verfügen müssen, das die übrige Welt sehen oder haben möchte, das sie fortwährend brauchen wird und das sich stets erneuern lassen muss….
Eine plötzlich einsetzende Änderung der Szenerie bringt Leopold zurück in die Wirklichkeit dieses schwülen Sommertages. Die bis dahin wie eine undurchdringliche Membran wirkenden Dunstschleier werden von der Kraft der hochstehenden Sonne durchdrungen und geteilt, sodass sich jetzt die Konturen der Gegenstände und Personen rings um den Beobachtungsturm scharf gegen ihre Umgebung abgrenzen. War die Gegend die längste Zeit in milchige Trübe getaucht, wirken die Dinge und Personen mit einem Mal wie frisch gewaschen. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Sonne ein kleines Stück nach Westen gewandert ist und allem, worauf ihr Licht nun unvermindert trifft, einen schmal-schwarzen Schatten verleiht. Leopold strafft die Schultern und blinzelt erneut, um den Blick zu schärfen. Sein Auge fällt auf die Gruppen der Handwerker und Bauleute. Wie kann es sein, dass sich unter diesen Hundertschaften noch immer kein Laut regt, sich nicht einmal eine Bewegung wahrnehmen lässt? Die Zeit der Mittagsruhe ist schließlich fast vorüber. Müssten die Männer nicht längst ihren Hunger und Durst stillen wollen?